Talent und
Tragödie

Jedes europäische Land, das sich dem Radsport verschrieben hat, hat seine Top-Stars. In der Schweiz waren die berühmtesten Rennfahrer zufällig alle in den 1950er-Jahren aktiv. Darum spricht man auch vom Goldenen Zeitalter des Schweizer Radsports. Die Rede ist von niemand Geringerem als den “Zwei K’s”:  Hugo Koblet und Ferdi Kübler. Heute wollen wir über den ersten der beiden K’s sprechen: Hugo Koblet, den legendärsten und tragischsten Radsportler, den die Schweiz je gekannt hat.

Vom Lieferjunge zum Rennfahrer

Hugo Koblet wurde am 21. März 1925 in Zürich geboren. Seine Eltern führten eine Bäckerei im Arbeiterquartier. Als Hugo neun Jahre alt war, starb sein Vater, und seine Mutter und die Kinder mussten die Bäckerei alleine führen. Hugo half im Familienbetrieb als Lieferjunge mit. Das mag den Samen des Radsports in ihm gepflanzt haben, und er sollte später zu einem der besten Radfahrer Europas aufblühen.

 

Mit 17 Jahren bekam Koblet eine Stelle als Fahrradmechaniker-Lehrling bei der berühmten offenen Rennbahn Oerlikon. In diesem Job lernte er die großen Radsportler und Teammanager der damaligen Zeit kennen. Aber dazu wäre es fast nicht gekommen. Bevor er bei der Rennbahn anheuerte, wollte seine Mutter, dass er Silberschmied wird, und liess ihn eine solche Lehre beginnen. Doch die scharfen Chemikalien, die in der Metallindustrie verwendet werden, verursachten bei ihm schwere Akne, die ihn zwangen, die Lehre abzubrechen. Man könnte sagen, dass er dank einer Allergie zum Radsport gekommen ist.

 

Sein erstes Rennen gewann er mühelos. Seiner Mutter erzählte er nichts davon, weil sie gegen eine Radsportkarriere war. Anscheinend sahen die meisten Eltern damals den Radsport nicht als Beruf an, wie der Schweizer Film “Bäckerei Zürrer” aus dieser Zeit bestätigt.  Aber die Würfel waren gefallen, und Hugo konnte nur noch besser werden.

 

Koblet hatte einzigartiges Talent, und der Erfolg stellte sich schnell ein. Er gewann 1945 das nationale Schweizer Bahnverfolgungsrennen und wurde 1946 Profi. In den Jahren 1947 und 1948 wurde er erneut Schweizer Bahnmeister. 1948 ging Koblet zum ersten Mal in die USA und gewann das Sechstagerennen in Chicago und erreichte den 3. Platz beim New Yorker Sechstagerennen auf der Bahn. Es waren die Reisen nach Chicago und New York, die ihm die USA ans Herz wachsen liessen. Er unternahm eine Tournee, die ihn nach Florida und Kalifornien führte.

 

Internationaler Erfolg

Anfang 1950 bekam seine Karriere einen grossen Schub, als sein Schweizer Rennfahrerkollege und Freund Gottfried Weilenmann ihn an Learco Guerra, einen Fahrradindustriellen und ehemaligen italienischen Profi, empfahl. Guerra stellte gerade sein erstes Team für den Giro d’Italia zusammen.  Hugo, der ausserhalb der Schweiz noch unbekannt war, bekam den Job und katapultierte sich an die Spitze des Giro-Klassements und gewann! Dies nicht nur als erster Schweizer, sondern auch als erster Nicht-Italiener! Im darauffolgenden Jahr gewann er die Tour de France, ein Jahr nach dem Sieg seines Schweizer Konkurrenten Ferdi Kübler. Die Siege dieser prestigeträchtigen Rennen reihten sich neben zahlreichen Schweizer Meisterschaften und Tour de Suisse-Siegen in sein Palmarès.

 

Vom französischen Sänger Jacques Trello erhielt Hugo den Spitznamen “Pedaleur de Charme”. Dies wegen seiner geschmeidigen Bewegungen auf dem Rad, aber auch wegen seiner charmanten Art. Damit gewann er die Begeisterung zahlreicher Fans quer durch alle Gesellschaftsschichten und natürlich die Herzen der Damen, und auch von seinen Konkurrenten wurde er geschätzt. Ende 1951 ging Hugo auf eine Reise nach Mexiko, um dort eine Amateur-Tournee als prominenter Fahrer aufzuwerten. Nach seiner Rückkehr fiel seine Leistung drastisch ab, weshalb vermutet wird, dass ihm in Mexiko etwas zugestossen ist – was, bleibt aber unklar.  Andere Quellen erklären den Leistungsabfall damit, dass eine medizinische Behandlung im Juni 1952 sein Herz schädigte. Was auch immer die Ursache war: Was ihm einst leicht gefallen war, wurde plötzlich zur Anstrengung. Er suchte Spezialisten auf, aber sein Leiden wurde nie geklärt.  Er gewann nie wieder ein internationales Rennen. Er wurde noch zwei Mal Zweiter beim Giro d’Italia und gewann die Tour de Suisse, aber fuhr nie wieder mit der gleichen Leichtigkeit.

Ein Gutmensch mit traurigem Ende

Hugo war ein bisschen zu freundlich, sehr gutmütig und dafür bekannt, dass er nicht nein sagen konnte. In einem Gespräch, das ich vor einiger Zeit mit Gottfried Weilenmann führen durfte, sagte er, sie hätten sich oft für nächsten Tag zu einer Trainingsfahrt abgesprochen. Göpf, wie alle Weilenmann nannten, und seine Mannschaftskameraden tauchten dann um 9 Uhr morgens bei Hugo auf, nur um festzustellen, dass er noch schlief. Koblet entschuldigte sich dann und sagte, dass er gleich kommen würde, aber oft wurde Hugo durch Telefonate abgelenkt, und schon waren 45 Minuten vergangen. Häufig gingen einige der Mannschaftskameraden einfach weg und trainierten ohne ihn.  Gottfried sagte, wenn Koblet sich konzentriert und ernsthaft trainiert hätte, hätte er besser sein können als Eddy Merckx. Das ist eine gewichtige Behauptung, aber Weilenmanns voller Ernst. Hugo konnte nicht nein sagen zu Leuten, die Gefallen, Geld, Sponsorenverträge und vieles mehr wollten.

Koblet hatte 1953 ein aufstrebendes Model namens Sonja Buehl geheiratet. 1958 beschloss er, sich zur Ruhe zu setzen, und er zog mit seiner Frau nach Venezuela, damals ein boomendes Land. Der Plan war, als Marketingbeauftragter für Agip Oil und die berühmten italienischen Marken Alfa Romeo, Fiat und Pirelli zu arbeiten. Aus verschiedenen Gründen dauerte die Zeit im tropischen Paradies allerdings nur zwei Jahre. Koblet kehrte in aller Stille nach Zürich zurück, während seine Frau in Caracas blieb. Er lebte allein in einer Einzimmerwohnung über einer Tankstelle, die er von Agip gekauft hatte, direkt neben der Rennbahn Oerlikon. Sein Leben war nie mehr dasselbe. Gescheiterte Unternehmungen und Kredite, die nie an ihn zurückgezahlt wurden, nagten an seinem Seelenfrieden. Viele sagen, er sei bald verwirrt, deprimiert und verschuldet gewesen. Im November 1964 prallte er mit seinem Alfa Romeo auf einer Landstrasse ausserhalb Zürichs gegen einen Baum. Alles deutet auf Selbstmord hin. Ein Zeuge hatte ihn davor mehrmals die Strasse auf und ab fahren sehen, so als rekognostizierte er für seine Todesfahrt.

Koblet scheiterte am Übergang vom prominenten Radfahrer zum Privatmann. Mit seinem Tod verlor die Schweiz ihr herausragendes Talent im Radsport und eine Lichtgestalt. Vielleicht passt ein altes englisches Sprichwort: “Die Flamme, die doppelt so hell brennt, brennt nur halb so lang”. Sein tragisches Leben fasziniert bis heute. Mehrere Biografien wurden über Koblet geschrieben, und ein Biopic aus dem Jahr 2010 liess die Faszination Koblet wieder aufleben.

Im Leben des zweiten K’s, Ferdi Kübler gibt es viele Parallelen zu Hugo Koblet. Doch sowohl sein Charakter als auch sein Werdegang waren völlig unterschiedlich. Mehr über “Ferdi National”, wie er genannt wurde, in unserer nächsten Story.

-Alex